23. November 2011

Verkehrssicherheit: Radfahrer haben einen schlechten Stand

Safety: Cyclists have a bad state

Die Kultur der Angst begleitet uns zunehmend im alltäglichen Leben. "Sicherheitsexperten" wollen uns vor allen möglichen
Unfällen schützen, in der Regel aber nur die Unfallfolgen der Schwächeren abmildern, ohne die Unfälle selbst zu verhindern. Einen besonders schlechten Stand haben in Deutschland die Radfahrer. In vielen Medienberichten und selbst bei Unfallaufnahmen durch Polizei regiert ihnen gegenüber eine gewisse Voreingenommenheit. 

Ein Beispiel dazu ist der Unfall eines 23-jährigen Radfahrers, der am 30.09.2011 in Berlin tödlich verunglückte. Er fuhr im Verlauf einer Vorfahrtstraße auf dem Radfahrstreifen geradeaus über eine Kreuzung und wurde von einem linksabbiegenden Pkw-Lenker übersehen. Der Radfahrer konnte nur noch im letzten Moment vor der Kollision abbremsen, ging dann aber über den Lenker und verletzte sich dabei tödlich. Dem jungen Mann wird nun vorgeworfen für den Unfall mitverantwortlich zu sein, weil er ohne Licht gefahren war. Der Unfall geschah gegen 18.50 Uhr, der Sonnenuntergang war am 30.09.2011 in Berlin um 18.59 Uhr. Damit war es zum Unfallzeitpunkt nicht dunkel, sondern lediglich die Dämmerung hatte begonnen. Bei Sonnenuntergang ist es schließlich immer noch relativ hell.




Nicht das Opfer blieb Opfer, sondern der Verursacher wurde zum Opfer stilisiert. Nicht erwähnt wird dabei, dass viele Radfahrer, Fußgänger oder auch Motorradfahrer von Kraftfahrzeug-Lenkern auch am hellichten Tage übersehen werden, oder aber auch trotz funktionierender Beleuchtung. Fatal ist leider nur: Radfahrer haben keine Knautschzone. Radfahrer sollen sich aber nach und nach mit allem Möglichen vor Unfallfolgen schützen, die Unfallursachen werden allerdings hingenommen. Somit wird die Freiheit der Radfahrer zunehmend eingeschränkt, die Freiheit der Autofahrer wird dagegen kaum hinterfragt. Radfahrer werden auf nicht angemessene, unbrauchbare und gefährliche Wege gezwungen, damit Autofahrer auf den Straßen ungehindert rasen und möglichst überall parken können. Vor der ungebremsten Freiheit für die Autofahrer sollen Radfahrer sich dann aber auf jeden Fall schützen. Und während die Autofahrer einseitig mit ABS, Airbags, SUV-Panzerung, Kuhfängern und Tagesfahrlicht aufrüsten, bleiben Radfahrer dagegen ungeschützt. Tempo 30, Shared Space, ausreichende Seitenabstände zu parkenden Autos an Radwegen und Radfahrstreifen, freigeräumte Sichtdreiecke an Kreuzungen und Einfahrten, Alkoholverbot oder Telefonierverbot zur Erhöhung der Sicherheit der Radfahrer sind unbequem für den Vorrang des Autoverkehrs und bleiben daher oftmals Tabu.













Medien berichten häufig: Unfall mit Radfahrer – Radfahrer trug keinen Helm. Selbst bei Unfällen mit Radfahrerbeteiligung ohne Kopfverletzungen wird gerne erwähnt, dass Radfahrer beim Unfallhergang keinen Helm trugen. Was soll uns das sagen? Wieder die Radfahrer? Rüpelradler, Kampfradler, Ramboradler? Selbst schuld? Laut dem statistischen Bundesamt waren 2008 in Deutschland 6562 Personen an Kopfverletzungen verstorben. 1383 Personen waren bei Transportmittelunfällen an Kopfverletzungen verstorben. Weitere 768 Personen waren wegen Kopfverletzungen tödlich verunglückt, weil sie an / über Treppen gestürzt sind. Niemand erwäht dabei anschließend: Die Person trug auf der Treppe keinen Helm oder mit Helm hätte die Person wahrscheinlich den Treppensturz überlebt. Bei 69% der bei der Treppenstürzen Verstorbenen war eine Kopfverletzung die Todesursache. 381 Personen waren als Pkw-Insassen mit Kopfverletzungen tödlich verunglückt, 219 Personen als Fußgänger im Straßenverkehr mit Kopfverletzungen tödlich verunglückt. Und auch da heißt es in den Polizeiberichten keineswegs: Die Person trug keinen Helm. Und 226 Radfahrer waren im Straßenverkehr mit Kopfverletzungen tödlich verunglückt. Aber da heißt es gern: Die Person trug keinen Helm!



Behelmte "Mineurin" im Berliner Abendverkehr
Helmeted "mineur" at Berlin late evening


2011 berichtete die Polizei Hamburg bis heute von 24 kopfverletzten Fußgängern, ohne dabei zu erwähnen, dass diese keine Helme trugen. Ebenso berichtete sie von neun kopfverletzten Radfahrern, erwähnte bei zweien dieser Unfälle der Radfahrer, dass die am Kopf verletzten Radfahrer keine Helme trug. Alle neun kopfverletzten Radfahrern überlebten die Unfälle, vier von ihnen waren schuldlos und wurden von Autofahrern umgefahren. Von den 24 kopfverletzten Fußgängern verstarben drei an den Unfallverletzungen. Zwei von diesen liefen ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße, eine weitere Person wurden von einem rückwärts ausparkendem Transporter totgefahren. Insgesamt liefen sechszehn der 24 Kopfverletzten ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße. Vier Fußgänger wurden in Kreuzungsbereichen erfasst, bei dreien war der Unfallhergang unklar, bei der vierten Person verursachte der Autofahrer den Unfall. Eine Person wurde beim Ausparken übersehen. Eine Person wurde beim Überqueren des Radweges von einem Radfahrer erfasst, die Schuldfrage war unklar. Eine Person stürzte mit dem Mobiltelefon telefonierend ins Gleisbett der S-Bahn und wurde von einem Zug überrollt. Von den 24 Fußgängern verursachten siebzehn selbst die Unfälle, bei fünf Personen waren die Unfallursachen ungeklärt, bei nur zwei Personen waren Autofahrer Unfallverursacher. Warum schreit nun in Hamburg keiner nach Helmpflicht für Fußgänger?




Wer eine Helmpflicht für Radfahrer fordert, muss diese auch für Fußgänger fordern.









Im Fall des verstorbenen Berliner Radfahrers wehren sich die verbliebenen Angehörigen gegen die Berichterstattung der Medien. Am 26.10., dem Geburtstag des Unfallopfers, trafen sie sich zu einer Gedenkfeier an der Straßenkreuzung und kritisierten dabei die Medienberichte: „Es war 18.50 Uhr, es war nicht dunkel!!!“ Die Berliner Presse titelte zu dem Verunglückten: „Fahrradfahrer ohne Licht ist 40. Verkehrstoter“. Vor einigen Jahren, als für Deutschland das Tagesfahrlicht für Kraftfahrzeuge eingeführt werden sollte, stand ich mit Vertretern von Automobilclub und Landesregierung vor der Kamera. Damals war in Österreich eine Studie veröffentlicht worden, die die Augenreaktionen der Autofahrer auf Lichtquellen untersucht hatte und letztendlich mit zur Abschaffung der Tagesfahrlichtpflicht in Österreich führte. Die Tagesfahrlichtbefürworter argumentierten in der Fernsehtalkrunde, dass Autofahrer durch Tagesfahrlicht besser zu sehen seien, auch für Radfahrer und Fußgänger. Den dadurch erkauften Nachteil, dass Fußgänger und Radfahrer durch Tagesfahrlicht für Kfz letztendlich weniger gut zu sehen seien, sollten diese mit reflektierender Kleidung nachrüsten. Selbst die ältere Dame auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Arzt solle sich doch mit Reflektoren aufrüsten, um mit dem Tagesfahrlicht mithalten zu können. Nach der Sendung wurde mir in der Garderobe vorgehalten, dass ich als einziger Studiogast, der mit dem Rad gekommen war, abends mit dunklem Mantel unterwegs gewesen sei. Darauf fiel mir nur ein, dass die Herren sich sicherlich nicht Warnwesten über ihre dunkle Abendgarderobe überziehen, wenn sie auf dem Weg zu Theater oder Elbphilharmonie aus der U-Bahn austeigen und anschließend die Straße betreten. Übrigens waren die nicht mit dem Rad angereisten auch alle dunkel gekleidet gewesen.


Affallend viele Radfahrer nutzen in Berlin Warnwesten
Striking number of cyclists using safety vests in Berlin


Auf Voreingenommenheit selbst bei Polizisten stösst ebenso das Radfahren über Fußgängerüberwege, was grundsätzlich nicht verboten ist, ebenso das Musikhören auf dem Rad, was ebenso nicht verboten ist, genauso wie sich Autofahrer in ihren zum Teil schalldicht abgeschlossen Kabinen ablenken dürfen durch Telefonieren, Musikgenuss oder das Bedienen der Navigationsgeräte.

Was muss sich ändern? Fahrradhelme und erst recht Warnwesten sind in Amsterdam kein Thema. Trotzdem ist Amsterdam eine der sichersten Städte für Radfahrer überhaupt. Es geht auch ohne Aufrüstung, nämlich durch Abrüstung.
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